Die Befreiung aus dem Paradies

Am Anfang der Geschichte war Alles, wie es geschaffen worden war. Lauschige Haine und mächtige Einzelbäume strukturierten einen weitläufigen Park. Dazwischen erstreckten sich grüne, blühende Wiesen. Bäche plätscherten in anmutigen Mäandern über kleine Staustufen, oder glitten leise, wie flüssige Schlangen, zwischen den schlammigen Ufern eines Auwaldes dahin. Ferne Berge gab es, unerreichbar zwar und ehrfurchtgebietend, aber ungemein dekorativ am Horizont.

Alle Arten von Tieren bevölkerten diesen herrlichen Park. Die Pferde, die Zebras, die Gnus, die Bisons, die Schafe, sie weideten stets zwei und zwei beisammen auf den üppigen Weiden; die Eichhörnchen und die Flughunde kobolzten in den Bäumen; die Adler, die Harpyen, die Kondore beherrschten den Himmel; die Forellen standen im Bach; und die Löwen, die Hyänen, die Wölfe, sie durchstreiften das Gelände und lagerten des Abends faul im Grase. Auch ich war da, und kann davon erzählen, denn da ich meinen Schwanz ins Maul nehmen kann, da sich mein Ende in meinen Anfang schließt, daher bleibe ich unendlich, und kann Zeugnis ablegen.

Allen ging es gut. Der Herr hielt sie satt, so dass niemand hungrig ging, und den Löwen keine Gelüste nach Gnufleisch ankamen, und das Lamm neben dem Wolf lagern konnte.

Zufrieden waren auch der Mann und die Frau. Bisweilen sah ich sie durch den Garten schlendern, stets ohne Eile, denn es drängte sie nichts, stets ziellos, denn es fehlte ihnen nichts. Einmal nur sah ich sie tätig. Da schritten sie durch den Park, begrüßten jedes Tier, besuchten jede Pflanze, und gaben ihnen Namen. „Regenbrachvogel“, sagten sie, und „Sternmiere“, und „Dickhornschaf“, und „Baobab“. Sie hatten lange damit zu tun, und den Tieren und Pflanzen war es, meinem Eindruck nach zumindest, vollkommen einerlei. Einen unschätzbaren Gewinn hingegen hatten der Mann und die Frau: Sie gewannen die Sprache. Und ich, der ich ihnen gelauscht hatte, im Grase verborgen, besaß sie nun auch.

So waren die Tage einförmig wie das Leben. Wohlwollend zog die Sonne ihre Bahn von den schneebedeckten Bergen zum fernen Meer; mild ergoss sich der Regen am Nachmittag und brachte Erfrischung; ein Tag glich dem anderen mit freundlicher Wärme und Sorglosigkeit. Der Garten war ein Ort vollkommener und mithin unabänderlicher Harmonie. Mochten die Tiere auch allen ihren Trieben nachgeben, die man darum „animalisch“ nennt – sie blieben zwei Löwen, zwei Schafe, zwei Elefanten, zwei Eichhörnchen. Und die Baumgruppen verteilten sich in perfektem Gleichmaß, so wie es die Sichtachsen und der Rhythmus des Raumes verlangten.

Nicht anders der Mann und die Frau. Manchmal, wenn sie über moosige Matten schlenderten, fiel die Frau auf Knie und Hände und reckte ihren Hintern. Dann vereinten sie sich stöhnend und genossen einander. Doch die Tage vergingen, und der Mond nahm zu und ab, ohne dass ihr Bauch das nachgeahmt hätte.

Es kam der Tag – der Tag, der war wie alle Tage -, da ertrug ich es nicht länger. Ich kann nicht sagen, was mich anstachelte. Wer kann sagen, warum er denkt, wie er denkt? Wie wir die Dinge auffassen, ist ein Teil unserer selbst. Ich kann es nicht ändern, wie ich bin.

Ich kroch herbei, als sie am Morgen auf einem Felsen lagerten – einem Felsen, der sich malerisch und ganz frei von scharfen Kanten aus dem Gras erhob und einen vollkommenen Aussichtpunkt darstellte für ein vollkommenes Panorama mit einem seerosenbekränzten Teichlein, einem entzückenden Wasserfall, einem dunkelfeuchten Wald und den stets bereitstehenden Bergen.

„Mann!“ sprach ich. „sind die Berge nicht wunderschön?“

„Das sind sie“, stimmte er zu.

„Ob du sie wohl besteigen könntest?“ fragte ich.

„Wahrscheinlich könnte ich das“, erwiderte er nach einigem Überlegen. „Aber warum sollte ich das tun?“

Weil sie da sind, lag es mir auf der Zunge, aber er hätte mich nicht verstanden. Stattdessen frage ich geduldig weiter: „Gelüstet es dich nicht, deine Kraft an ihnen zu erproben, ihre Höhen zu erkunden, das Eis auf ihren Gipfeln zu schmecken?“

Wieder dachte er eine Weile nach, ehe er antwortete: „Nein. Ich kenne meine Kraft.“

„Und die Höhen – machen dir Angst?“ reizte ich ihn.

„Aber nein“, gab er zurück. „Der Herr ist mein Hirte.“

Wie wahr, dachte ich bei mir, und kroch davon. Ich erkannte, dass ich geschickter vorgehen musste.

Einige Tage später traf ich sie an einer Stelle, wo zwei Bäche zusammenflossen und eine lauschige Sandbank bildeten.

„Seid gegrüßt“, begann ich. „wie nennt ihr diese grauen Vögel dort drüben?“

„Reiher“, sagten sie.

„Und den Vogel, der dort im Gebüsch singt und klagt?“

„Nachtigall.“

„So habt ihr tatsächlich für alles einen Namen?“

„Ja, wir haben allem seinen Namen gegeben, wie es uns der Herr befohlen hat“, erwiderte die Frau.

„Und wie nennt ihr euch?“ fragte ich weiter.

„Ich bin Mann“, sagte der Mann. „Und sie ist Frau.“

„Und das ist alles?“ hakte ich weiter. „Mann und Frau, so wie Bulle und Kuh? Seid ihr denn Tiere?“

Sie schauten mich an. Sie verstanden meine Frage nicht. „Wir sind Geschöpfe des Herrn“, sagten sie schließlich.

„Stellt euch vor, es gäbe mehrere von euch. Mehrere Männer, mehrere Frauen. Wie würdet ihr euch unterscheiden?“

Wieder staunten sie mich lange an. „Es gibt nur uns“, gaben sie schließlich zurück. Fürwahr, sie waren nicht die schärfsten Chilis am Strauch.

„Und wie nennt ihr diesen Ort, an dem wir uns befinden?“ fragte ich ein wenig ärgerlich.

„Den Garten“, erwiderten sie prompt.

„Und wie nennt man einen Garten, in dem ein Herr Tiere hält zu seinem Vergnügen?“ setzte ich nach, wartete aber nicht auf Antwort. Ich glitt davon und sann auf neue Wege. Wahrlich, weit wirksamer als ein Käfig aus stählernen Stäben ist einer aus Gittern im Geiste.

Können wir das Unbekannte begehren? Kann uns etwas fehlen, das wir nie erfahren haben? Wie weckt man die Lust auf etwas, das Einer noch gar nicht kennt? Wie erzeugt man Missbehagen im vollkommenen Wohlbefinden, Sehnen in der Bedürfnislosigkeit, Unglück im Glück?

Und: Ist es recht, das zu tun? Ist es richtig, dem Zufriedenen zu zeigen, dass er sich täuscht? Darf man dem Gefangenen die Gitter zeigen, die er bislang nie wahrgenommen hat? – Nun, da fragt nicht mich. Ich bin Fleischfresser und habe von dem bewussten Baum nie gekostet.

Ja, der bewusste Baum. Je länger ich vergeblich versuchte, den Mann und die Frau aus ihrer geistigen Genügsamkeit aufzurütteln, desto deutlicher wurde mir, dass es mir mit Worten allein nicht gelingen würde. Der Herr hatte ihnen die Sprache gegeben, weil er gewusst hatte, dass diese allein nur tönend Erz und klingende Schelle ist, wie er später verkünden lassen würde. Die Rede der Frau und des Mannes plätscherte wie Wasser auf ein Mühlrad, das nichts dreht. Ich musste ihm etwas zu drehen geben. Dieses aber konnte die Sprache aus sich selbst nicht erzeugen.

Ich wartete, bis sie sich in jenem Teil des Parks aufhielten, in welchem der bewusste Baum stand. Und ich wartete, bis sie sich gepaart hatten, denn dann sank der Mann gerne in einen leichten Schlummer. Mir war klar geworden, dass ich mich an die Frau halten musste. Die Frau ist stets bereit, die Regeln des Mannes infrage zu stellen. Und der Mann wird immer alles für die Frau tun.

Er schlief also, und nachdem sie das Vergnügen noch eine Weile ausgekostet hatte, stand sie auf und schlenderte zwischen den Bäumen. Viele von ihnen trugen Früchte – sie trugen immer Früchte. Guaven gab es und Papaus, Avocados, Birnen, Mangostin und Aprikosen. Ich wusste, dass sie selten davon aßen, da der Herr ihnen – wie allen Tieren – den Hunger verwehrt hatte.

„Stimmt es, dass ihr von den Früchten der Bäume nicht essen dürft?“ fragte ich.

„Oh doch“, erwiderte die Frau, „wir dürfen von allen essen. Außer von den Früchten des Baumes dort mitten im Garten. Die sind uns verboten, da wir sonst sterben.“

„Sterben?“ tat ich erstaunt. „Sind die Früchte denn giftig?“

„Giftig? Nein, ich glaube nicht“, sagte die Frau. „Nein, wir kennen die giftigen Früchte. Der Herr behütet uns vor ihnen. Er ist unser . . .“

„Jaja“, unterbrach ich. „Also wenn sie ungiftig sind, und vielleicht sogar köstlich – weshalb solltet ihr sterben?“

„Ich weiß es nicht“, gab die Frau zu. „Der Herr hat es verboten.“

„Verboten? Was bedeutet das?“

Die Frau dachte nach. All die Entspannung, die ihr die Paarung verschafft hatte, verdampfte und ließ Anspannung zurück. Die Frau rätselte, und schließlich schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu. „Ich weiß nicht, was ‚verboten‘ bedeutet, aber ich weiß, dass es mir Angst macht.“

„Meinst du nicht auch, dass eine Angst ohne Grund sinnlos ist?“ fragte ich sanft. „Dann will ich dir sagen, wovor du Angst hast: Wenn du von diesem Baum isst, dann wirst du wissen, was ‚verboten‘ bedeutet. Dann erst wirst du den Herrn ganz und gar verstehen. Er sieht aus wie ihr, nicht wahr? Und doch scheint er von ganz anderer Art zu sein. Er ist euch fremd – ist das nicht traurig? Ich glaube, dass es diese Fremdheit ist, die dir Angst macht. Wenn ihr von diesem Baum esst, dann werdet ihr anders werden – so wie der Herr. Es kostet Mut. Aber dann erst werdet ihr ihn ganz verstehen, wenn er von ‚verboten‘ spricht und ‚erlaubt‘, von ‚gut‘ oder ‚böse‘.“

„Gut und böse“, murmelte die Frau. „Was ist das?“

„Ich kann es dir nicht sagen“, erwiderte ich. „Es ist das letzte Geheimnis.“

Während wir sprachen, war ich langsam und lockend vor ihr davon geglitten. Nun standen wir unter dem Baum. Seine reifen, prallen Früchte hingen ihr bis vor den Mund.

„Wie er?“ fragte sie noch einmal. Ich nickte langsam. Da pflückte sie entschlossen eine Frucht und biss herzhaft hinein. Der Saft tropfte ihr vom Kinn, als sie staunend die Augen aufriss und überwältigt durch das Geäst des Baumes in den Himmel schaute. Sie aß noch einen Bissen. Dann pflückte sie dem Mann auch eine Frucht.

Am Abend dieses Tages wehte ein kalter Wind von den Bergen herab. Er trug den Geruch nach Schnee.

Als Adam und Eva einige Monate später den Garten verließen, war er kaum noch zu erkennen. Längst waren die meisten Tiere fortgezogen, hatten sich Gefilde gesucht, wo sie Futter fanden, und Schutz vor einander. Der Herbst hatte die Bäume welken lassen, viele für immer. Laub lag dick auf den Wiesen, in denen allein die Nesseln sich noch wohlzufühlen schienen.

Adam und Eva wanderten nach Süden, gegen die Kälte geschützt mit Fellen, die mir nach Einhorn aussahen. Eva musste langsam gehen, denn ihr Bauch rundete sich. Adam hielt ihre Hand und stützte sie. Ihm wuchs ein Bart. Er war magerer geworden, aber auch sehniger, und wachsamer. Ich traf sie auf einem steinigen Feld zwischen Bergen und Meer.

„Nun“, sagte ich, „da seid ihr. Endlich frei.“

„Frei?!“ schrie Eva. „Frei? Geplagt von Hunger, Schweiß und Schmerzen – das nennst du frei?“

„Frei zu entscheiden“, sagte ich. „Frei, Verantwortung zu übernehmen.“

„Und was haben wir davon? Macht es uns glücklich? Macht es uns satt?“

„Ich habe nie versprochen, dass es einfach wäre“, zischte ich etwas verärgert. „Nein, es macht nichts einfach. Im Gegenteil. Aber es macht euch zu Menschen. Ihr seid Tiere gewesen, und seid nun endlich Menschen geworden.“

„Haben wir dich darum gebeten?“ fauchte Eva mich an. „Wir waren zufrieden im Garten. Es fehlte uns nichts. Was du getan hast, war falsch!“

„Aber dass du das denken kannst – das verdankst du mir.“

„Verdanken?“ bellte Adam. „Ich gebe dir gleich, was wir dir verdanken.“

Und er hob einen Stein auf.

Ich kroch davon.

Hier bin ich. Entscheide du, ob du dankbar bist.

Die Einkaufswagenethik

Die Einkaufswagenethik

Schweine sind immer die Anderen. Dieselben Leute, die von sich selbst behaupten, dass sie sich überwiegend an moralische Regeln hielten, bezweifeln das von der Mehrheit ihrer Mitmenschen. Dieser wissenschaftlich gut bekannte Effekt ist uns im vergangenen Jahr überdeutlich vorgeführt worden: Die Grundrechtseingriffe durch die Coronaverordnungen werden ja nie damit gerechtfertigt, dass der Redner selbst sich sonst nicht an Hygieneregeln halten würde, sondern dass die Mehrheit der Anderen es sonst nicht täte.

Ich setze dem meinen Einkaufswagen entgegen.

Im Münzfach meines Portemonnaies habe ich einen Schlüssel – ursprünglich vermutlich von einem Sparschwein o.ä. -, dessen Reite genau das Format eines Eurostücks hat. Einkaufswagenschlösser, die kein Schubfach haben, sondern nur einen Einschubschlitz, lassen sich damit öffnen. Und dann lässt sich der Schlüssel wieder herausziehen.

Obgleich ich somit kein Pfand für den Wagen gegeben habe, bringe ich ihn jedesmal zurück. Aus Prinzip. Es ist mir wichtig, das Richtige nicht deswegen zu tun, weil ich dazu gezwungen werde, sondern deswegen, weil ich es als richtig erkannt habe und daher will.

An der Wagenstation kette ich den Wagen dann allerdings nicht wieder fest, sondern mache den kostenlosen Wagen für meinen Nachfolger verfügbar. Ich will jedem anderen Nutzer die Möglichkeit geben, sich ebenfalls frei moralisch richtig zu entscheiden. Mehr noch: Ich muss das. Es ist eine zwingende Forderung aus meinem Menschenbild, das von mündigen, freien, vernünftigen Personen ausgeht. Dieses Menschenbild aufrecht zu erhalten, ist geradezu eine Notwendigkeit für meine geistige Gesundheit. Ich müsste sonst jeglichen Glauben daran aufgeben, dass eine gerechtere, gleichere, freiere Gesellschaft möglich ist. Denn ein Jeder, der behauptet, die Menschen bräuchten Zuckerbrot und Peitsche, um in der Gesellschaft zu funktionieren, rechtfertigt damit – bewusst oder unbewusst – die Diktatur.

Dabei blende ich nicht aus, dass es mir meine Mitmenschen nicht einfach machen. Sie scheinen mehrheitlich zu bestehen aus Mitläufern und Jasagern, Egoisten und Heuchlern, AfD-Wählern und Grünenwählern, Spiegellesern und Facebooknutzern, Denkverweigerern und Wirklichkeitsleugnern, kurz: Schwachköpfen und Pharisäern, lauter Leuten, die ich für intellektuell und / oder moralisch irregeleitet halte.

Und doch halte ich mit verzweifelter Hoffnung daran fest, dass der individuelle Mensch wirklicher und besser ist als das Klischee der Gruppen. Diesem Individuum, das all das Obige ist und doch nichts davon, schenke ich mein Vertrauen – in Form eines Einkaufswagens.

Stoppt die Umwortung aller Worte!

Sagen zu können, was man meint, ist nicht nur die Voraussetzung für gelingende Kommunikation. Es ist auch Bedingung für eine echte politische Debatte – eine, in der Ideen miteinander streiten, und nicht nur Hunde gegeneinander ankläffen.

Umso gefährlicher ist es für die politische Öffentlichkeit, wenn Wörter ihre Bedeutung verlieren. Wenn der Wortklang Inhalt nur noch vortäuscht, dann ist er nicht besser als „Wau“. Noch schlimmer aber ist es, wenn ein Wort das Gegenteil dessen bedeutet, was es zu bedeuten vorgibt. Dann lügt es. Dann verbirgt es Absichten, schönt Verbrechen, und verdreht die Wahrnehmung der Welt.

In der politischen Rede ist solcher Missbrauch von Worten Tradition. Was George Orwell darüber 1945 in seinem berühmten Essay „Politics and the English language“ geschrieben hat, liest sich wie gestern verfasst, und war doch schon damals nicht neu. Immer schon waren Euphemismen das Gleitmittel gedanklicher Widerlichkeiten. Auch Bedeutungsverdrehungen sind nichts Neues: Stets betreiben wir „Verteidigung“, wenn wir Angriffskriege führen.

Trotzdem – gerade weil die semantische Lüge zur Gewohnheit wird – ist es immer wieder nötig, die Wortverdrehungen des Tages ins Rampenlicht zu stellen. Denn Newspeak ist auch hier und heute die Sprache der Politik, und wer sie übernimmt, dem ergeht es, wie Syme in 1984 erklärt: „In fact, there will be no thought, as we understand it now. Orthodoxy means not thinking – not needing to think. Orthodoxy is unconsciousness.” Wer seine Gedanken nicht mehr ausdrücken kann, hat bald keine mehr, und endet in der politischen Bewusstlosigkeit,

Nehmen wir die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Am 1. August des vergangenen Jahres demonstrierte in Berlin eine große (und unklare) Anzahl von Menschen völlig unterschiedlicher politischer Ansichten – unpolitische Menschen, Linke, Esoteriker, Systemkritiker, Verschwörungsgläubige und Rechtsextreme – friedlich und tanzend, in verwirrend bunter und toleranter Mischung, für Grundgesetz und Eigenverantwortung. Ihnen entgegen stellte sich ein Block Maskierter, die Repressionen durch einen autoritären Staat verteidigten.

Welche der beiden Seiten bezeichnet sich als „antifaschistisch“?

Wohlgemerkt: Es geht mir hier nicht um die Frage, ob die Coronamaßnahmen sinnvoll sind und Masken helfen. Dazu habe ich keine belastbaren Kenntnisse. Es geht mir um die Art, wie darüber – und über viele andere Themen – diskutiert oder vielmehr nicht diskutiert wird.

Die Politiker und Journalisten, welche die Anti-Corona-Maßnahmen vertreten, berufen sich auf „die Wissenschaft“ und die Vernunft und damit auf die Tradition der Aufklärung. Justament also diejenige Tradition, die jeden einzelnen Menschen dazu aufruft, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Sie behaupten also, Mündigkeit zu propagieren, indem sie entmündigen.

Dasselbe tun sie – man darf wohl annehmen, dass es meist dieselben Menschen sind -, wenn sie gegen das vorgehen, was sie neuerdings „hate speech“ und „fake news“ nennen, weil „Hetze“ und „Lügen“ zu altbacken klingen, um neue Maßnahmen zu rechtfertigen. Sie trauen Anderen nicht zu (sich selbst natürlich schon), eine Äußerung einzuordnen und zu reflektieren. Sie sehen Andere als wehrlose Opfer vermeintlich infektiöser Sprache. Sie vertreten also im Namen der Aufklärung ein anti-aufklärerisches Menschenbild. Sie üben Intoleranz im Namen der Toleranz. Sie kämpfen für Meinungsfreiheit, indem sie missliebige Meinungen verbieten. Sie sind antidemokratische Demokraten.

Wenn wir es zulassen, dass diese Tendenzen in der politischen Rede zur Regel werden, wenn wir die Umwortung aller Worte stillschweigend hinnehmen, dann verlieren wir die Fähigkeit zur politischen Debatte. Dann rutschen wir aus reiner Denk- und Redefaulheit in eine totalitäre Gesellschaft, mag sie auch die Institutionen einer parlamentarischen Demokratie bewahren. Es ist schlimm genug, dass wir bereitwillig den Frieden, die Demokratie und einige Grundrechte aufgegeben haben. Aber wenn wir auch die Sprache verlieren, uns darüber zu beschweren – dann sind wir gänzlich wehrlos.

Fazit 1: Oh Mensch!

Viel miteinander zu tun haben sie auf den ersten Blick nicht, die verschiedenen Beispiele von Irrwissen, die ich in dieser kleinen Serie gesammelt habe. Fehlgeleitete Hochhausarchitektur, merkbefreite Geldtheorie, geistlose Geistesphilosophie und ein fehlzündender Urknall – das wirkt wie ein zufälliges Sammelsurium von Irrtümern, von denen jeder seine eigenen Hintergründe und Ursachen hat, die in der Geschichte des jeweiligen Faches begründet sind.

Oder? Steckt nicht vielleicht doch mehr dahinter? Ich glaube schon. Denn Eines haben fast alle Beispiele, die ich zusammengetragen habe, gemeinsam: Sie verleugnen den Bezug der Welt zum Menschen. In einigen Fällen ist das offensichtlich: Kosmologie und Evolutionstheorie (die ich allerdings nicht widerlegen konnte) haben in den vergangenen Jahrhunderten zwei der drei sogenannten Demütigungen des Menschen hervorgebracht, indem sie ihn aus der Mitte des Universums und von der Krone der Schöpfung gestürzt haben ( – die dritte Demütigung war bekanntlich Freuds Feststellung, dass der Mensch noch nicht einmal Herr im eigenen Ich ist -), und im Allgemeinen zeigt sich die Wissenschaft stolz auf diese Leistungen. Anthropozentrismus gilt als altbacken, überheblich und sowieso als Ursache aller gegenwärtigen Probleme, daher wird dem Menschen gerne aufs Brot geschmiert, dass er nur ein vergängliches Stäubchen auf einem unbedeutenden Planeten ist, der um eine mediokre Sonne am äußeren Spiralarm einer gewöhnlichen Galaxie kreist. Die abstrusen Versuche zu einer „nicht-anthropozentrischen Ethik“, die daraus erwachsen sind, hätte man in die kleine Sammlung auch noch aufnehmen können.

Nein, Naturwissenschaft und Philosophie verhehlen nicht, dass sie stolz darauf sind, den Menschen entmachtet, gedemütigt und zum bloßen biochemischen Prozess degradiert zu haben. Bei anderen Wissenschaften ist der Zusammenhang weniger offensichtlich, aber trotzdem vorhanden. Ich schrieb schon in dem Artikel über Glasdoppelfassaden, dass ich derartige Architektur für nicht nur technisch untauglich, sondern auch für weltanschaulich totalitär und unmenschlich halte. Es sind nicht Häuser nach dem Maß des Menschen, sondern Gebäude nach den Ansprüchen der Weltmaschine. Und ist nicht unser Geldsystem, das den Bezug zur menschlichen Arbeit als dem einzigen wertschöpfenden Produktionsfaktor längst verloren hat und alle Schranken menschlicher Moral und Kultur niederwalzt, genauso: totalitär und unmenschlich?

Viele zucken die Achseln und sagen: „Nun ja, so ist es nun mal. Damit muss der Mensch sich abfinden, dass er nicht das Maß der Dinge ist.“ Aber erstens, wie ich hinreichend gezeigt habe, ist es in Wahrheit gar nicht so: Das menschliche Bewusstsein ist nicht Ergebnis, sondern Voraussetzung der materiellen Welt. Die Determiniertheit der Welt kollidiert nicht mit menschlicher Moral und Freiheit. Geld ist weder Nahrung noch Selbstzweck, sondern aktuell schlicht katastrophal fehlkonstruiert. Und hätten wir ein brauchbares Geld, dann könnten wir es uns auch wieder leisten, Häuser zu bauen, die wie ein Seelenhandschuh sind.

Und zweitens: Selbst wenn wir Kosmologie und Evolutionstheorie nicht grundsätzlich widerlegen können – was zwingt uns, ihren vorläufigen Wahrheiten normative, kulturbildende Macht einzuräumen? Sollte eine lebendige Kultur nicht stark genug sein, ihr Menschenbild auch angesichts hochinteressanter Spekulationen zu bewahren? Kann man nicht die Wissenschaft im Sandkasten spielen lassen, während Frau Müller und Herr Schmidt nebendran ihr Haus bauen?

Mir macht die allgegenwärtige Menschenverleugnung Angst. Sie hat etwas von einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Wenn erst einmal eine Mehrheit den Menschen für überflüssig hält, verhindert nichts mehr, dass er tatsächlich verschwindet. Daher müssen wir dem in allen Bereichen – in der Kunst, der Wissenschaft, der Wirtschaft und im Miteinander – einen neuen Humanismus entgegensetzen, der seinen Namen verdient. Einen Humanismus, der das Bedürfnis des Menschen nach Sinn erkennt und daher die Welt auf ihn bezieht. Dabei geht es gar nicht darum, dass der Mensch sich arrogant über die Welt erhebe, wie er es – vermeintlich – früher getan hat. Sondern nur darum, dass er notwendigen Gegenpart der Welt begreift. Der Mensch kann nur ganz Mensch werden, wenn er die Welt mit allen Sinnen und Fähigkeiten erkennt, erfasst, erlebt, aber die Welt kann auch nur vom Menschen in ihrer Fülle erkannt und ihrer Schönheit bewundert werden. Wir brauchen den Menschen, wir brauchen die Welt, und wir brauchen eine menschliche Welt.