Der Ruinenbaumeister eigener Denkmäler

Die deutsche Öffentlichkeit glaubt, den Tag feiern zu müssen, an dem es dreißig Jahre her ist, dass Helmut Kohl Kanzler wurde. Ich bin verwundert. Hierzulande ist es normalerweise Konvention, nach 25 Jahren zu feiern, aber vor fünf Jahren wollte sich wohl noch niemand der bleiernen Zeit unter Kohl erinnern. Es hat aber auch vor acht Jahren niemand 30 Jahre Helmut Schmidt gefeiert, oder vor drei Jahren 60 Jahre Adenauer. Und 2025 wären dann 100 Jahre Hindenburg dran, oder? Wenn man es schon feiert, dass Kohl Kanzler wurde, dann sollte man diese Daten nicht auslassen. – Aber andererseits gedenkt man auch jährlich des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki; vielleicht sollen wir den heutigen Jubeltag in einer Reihe damit sehen.

Deutschlandradio Kultur brachte heute Morgen ein Interview mit dem Filmemacher Andreas Veiel, der sich der allgemeinen Versöhnerei nicht anschließen mochte, aber auch nicht ohne Anerkennung die strategische Machtintelligenz von Kohl herausstellte. So habe Kohl, durch den Einfluss auf seinen Freund Alfred Herrhausen, im Jahre 1989 gewaltige Bundesbankkredite an Ungarn vermittelt, die letztlich den Umbruch im Ostblock beschleunigt hätten. Es sei dies ein Glücksspiel gewesen, um die Wiederwahl 1990 zu ermöglichen. Denn die, daran erinnere ich mich gut, war äußerst unwahrscheinlich, bevor die Ossis die Mauer einrissen und Kohl retteten (was ich ihnen nie verzeihen werde). Aber weiter: Auch Veiel beklagte die überstürzte Währungsunion, die in Ostdeutschland die Industrie über Nacht zusammenbrechen ließ. Sie baute Kohl auf, um den Preis gewaltiger volkswirtschaftlicher Folgekosten.

Und nicht anders ist es ja mit dem Euro, dieser katastrophalen, strunzdusseligen Fehlkonstruktion von einem Zahlungsmittel: Er machte Kohl für den Augenblick zum „Baumeister Europas“, und wird dieses Europa doch in Kürze zerreißen.

So war die Methode Kohl: Mit sicherem Machtgespür und einem Gefühl für Möglichkeiten, das man vielleicht wirklich genial nennen muss, spektakuläre Potemkinsche Dörfer zu errichten, die nicht etwa der Bevölkerung als Wohnstatt, sondern nur die ihm selbst als Denkmal dienen sollten. Er war ein Ruinenbaumeister, der ständig sein eigenes Denkmal baute: als Ruine eben.

Dass er selbst heute nur noch eine 1,96m riesige, unverändert massige körperliche Ruine ist, wirkt wie eine ironische Metapher seines Lebenswerks.

PS: Durch reinen Zufall habe ich bei der Suche nach einem brauchbaren Link für „Ruinenbaumeister“ soeben erfahren, dass Herbert Rosendorfer, einer der geist- und phantasievollsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit, vor elf Tagen gestorben ist.