„Esst mehr Verben“ oder: Die Wirklichkeit unwirklicher Wörter

Wörter haben Macht. Das ist gewiss. Seltsam ist, dass dieselben Wörter zwar Macht haben könne, aber unter Umständen keinen Inhalt. Wie ein Zauberspruch im Harry Potter-Universum, dessen Inhalt die magische Wirkung ist, die er hervorruft.

Aber eben weil Wörter wirken, glauben die Menschen, sie müssten auch bedeuten. Und das führt zu Denkfehlern und Missverständnissen.

Zum Beispiel, wenn ein Psychiater davon spricht, sein Patient „hätte“ eine Schizophrenie, eine Depression, ADHS. Dann glauben damit beide, eine real existierende, klar definierte Krankheit benannt zu haben, die man „haben“ kann wie ein Geschwür oder ein Virus. Doch wie es mein Kollege Stephan Schleim kürzlich vorgeführt hat, erlauben es die Kriterien des DSM-5, die Diagnose „Major Depressive Disorder“ für zwei Patienten zu stellen, die kein einziges Symptom gemeinsam haben. Solche eine Diagnose kann für den Betroffenen erleichternd sein, weil er endlich einen Grund und eine Entschuldigung dafür hat, dass er so ist, wie er ist. Sie ist aber auch eine Küchenschublade, in der sich allerhand Buntes ansammelt, und aus der etwa ein Kind „mit ADHS“ so leicht nicht wieder herauskommt.

Vor allem aber verdinglicht die Benennung das Verhalten. Sie lenkt den Blick fort davon, warum ein Mensch so fühlt und handelt, und was dabei in ihm vorgeht. Wenn ein Kind „ADHS hat“, dann bekämpft der Psychiater ADHS wie ein Kammerjäger die Wanzen bekämpft.

 

Esst mehr Verben!

Was tatsächlich vorgeht, verstünden wir viel besser, wenn wir lernten, Substantiven zu misstrauen. Besser sollten wir in Verben denken und sprechen (was, nebenbei, auch dem Stil zugute käme). Nicht „Tim hat ADHS“, sondern „Tim zappelt viel, kann sich schlecht konzentrieren und lässt sich leicht ablenken“. Sogleich wird dadurch das Denken auf ganz andere Bahnen gelenkt: nicht auf Zustände, sondern auf Tätigkeiten, auf Vorgänge. Und damit auch darauf, was man tun kann, damit es sich ändert.

Im Falle „einer Schizophrenie“ oder „einer Depression“ könnte solches Reden in Verben gar die ganze Krankheit als Konstrukt entlarven. „Patientin A ist reizbar, isst und schläft wenig, spürt sich gedrängt, sich ständig zu bewegen, und kann sich nie entscheiden“, „Patient B fühlt sich niedergeschlagen und freut sich an nichts, er fühlt sich ständig müde und schläft viel, hat zugenommen; er findet sich selbst wertlos, weil er nichts leisten kann, und hat darüber nachgedacht, sich umzubringen“ – wer käme auf die Idee, diese beiden Menschen „hätten“ dieselbe Krankheit (was nach DSM-5 durchaus möglich wäre)?

 

Dingsda und Dingsda

Noch ein ganz anderes Beispiel aus dem Feld der Politik: Ob wohl ein Politiker, der zum Milliardensten Mal die Götterbrüder „Freiheit“ und „Demokratie“ anruft, imstande wäre, substantivfrei zu erklären, was er damit meint? Was bliebe übrig von „Freiheit“, wenn man gezwungen wäre, sie als das zu beschreiben, was Menschen tun oder erleiden?

Und könnten unser Oberhorst oder das Dob-Rindt, die gerade darauf beharrt haben, „der Islam“ gehöre „nicht zu Deutschland“, das auch in Verben sagen? Käme nicht vielleicht heraus, dass die ganze Aussage, ebenso wie ihre Verneinung, inhaltslos ist? Ebenso wie, selbstverständlich, des Horsts weitere Ausführung, Deutschland sei durch das Christentum geprägt. (Bemerkung am Rande: Was er damit meint, hat er immerhin, wenngleich in Substantiven, entlarvt: „der freie Sonntag, kirchliche Feiertage und Rituale wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten“. Sancta Simplicitas. Jesus würde sich im Grabe umdrehen, wenn er in einem läge.)

 

Die Wirklichkeit unwirklicher Wörter

Es ist eine nützliche Denkübung, Substantive – jedenfalls abstrakte – durch Verben zu ersetzen. Michael Halfbrodt hat das getan, um soziale Prozesse damit zu beschreiben.

Aber Obacht! Einer Sprechweise, die auf Erkenntnis und Verständigung aus ist, mag es zuträglich sein, Wörter als hohl zu entlarven. Doch gibt es andere Ziele des Sprechens. Psychiater und Patienten, die von Geisteskrankheiten sprechen, Politiker, die hehre Ideale im Munde führen, täten dies ja nicht, wenn der Wind ihrer Sprache folgenlos verwehte. Sie tun es, weil sie damit etwas bewirken können.

Indem Menschen das Gefühl haben, mit einem Wort etwas zu meinen, erzeugen Worte eine Wirklichkeit, die in ihnen gar nicht steckt. „Freiheit und Demokratie“ im Munde eines Politikers bezeichnen nichts, oder nahezu nichts. Trotzdem wecken sie Emotionen, formen Meinungen, leiten Entscheidungen, machen Politik. „Depression“ mag es nicht geben – trotzdem lenkt die Diagnose die Behandlung durch den Arzt, und beeinflusst das Selbstverständnis des Patienten.

So entstehen die Denkfehler und Missverständnisse, von denen ich eingangs sprach: Wenn man eine Sprechweise, welche die Welt beschreiben und erklären will, verwechselt mit einer Sprechweise, welche sie beeinflussen und beherrschen will. Wer diesen Fehler macht, könnte überrascht feststellen, dass er der Macht des Zauberspruches hilflos ausgeliefert ist.

2 Kommentare zu “„Esst mehr Verben“ oder: Die Wirklichkeit unwirklicher Wörter

  1. norbert sagt:

    Wiedermal ein sehr schöner Text, der ein sehr wichtiges Thema transportiert! Ich wünschte, wir würden die Prozesshaftigkeit unseres Daseins öfter in unserer Sprache spiegeln. Es würde uns gut tun.

    Grüße! N.

  2. Danke, lieber Norbert.
    Das Büchlein von Michael Halfbrodt habe ich übrigens seit langer, langer Zeit für Dich bereit liegen, seitdem wir genau dieses Thema mal im seligen Systemfehlerforum angesprochen haben. Vielleicht schaffe ich es ja dieses Jahr mal, es Dir zu geben.

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