Wir haben keine Inflation.

Begriffe sauber zu unterscheiden ist eine Grundvoraussetzung für Erkenntnis. Wer Reiz und Erregung durcheinanderbringt, wird kein Physiologe, wer Gerundium und Gerundivum nicht trennt, kein Latinist, und wer Masse und Gewicht verwechselt, kein Physiker. In den klassischen Wissenschaften beiderseits des großen Grabens hatten Gelehrte etliche Jahrhunderte hingebungsvollen Forschens und Definierens zur Verfügung, um die Grundbegriffe ihrer Gebiete zu klären und damit Verständnis überhaupt möglich zu machen.

In anderen Wissenschaften scheint diesbezüglich noch Arbeit zu tun. In den jüngeren, vor allem aber, so vermute ich: in denjenigen Wissenschaften, in denen das Eigeninteresse in die Forschung eingreift und das Wissen nach der Macht schielt.

So kommt es, dass in den Politikwissenschaften „Demokratie“ als synonym mit „parlamentarischer Repräsentanz“ verwendet wird, und in den Wirtschaftswissenschaften „Marktwirtschaft“ und „Kapitalismus“ dasselbe bedeutet. Obgleich doch gerade die letzteren beiden Begriffe sich auf komplett unterschiedliche wirtschaftliche Prozesse beziehen und sich in der Praxis bisweilen sogar diametral zueinander verhalten.

Aber die Wirtschaftswissenschaften haben es unter der Last der Ideologien besonders schwer. Man fragt sich, ob man nicht lieber von Wirtschafts“wissenschaften“ sprechen sollte.

Sonst könnten sie längst unterscheiden zwischen Inflation und Preissteigerung. Das ist eigentlich ganz einfach: Inflation ist – wörtlich – eine Aufblähung der Geldmenge. Preissteigerung ist – wer hätte das gedacht? – ein Anstieg der Preise.

In der Theorie sind diese beiden Vorgänge untrennbar gekoppelt. Mit dem pompösen Namen „Quantitätsgleichung“ adelt die Wirtschafts“wissenschaft“ den trivialen Zusammenhang: Preisniveau = Geldmenge/Gütertransaktionen. (Eigentlich muss man die Geldmenge noch mit der Umlaufgeschwindigkeit multiplizieren, und eigentlich ist das sogar sehr wichtig, aber nicht hier). Man sieht auf den ersten Blick: Solange die Gütertransaktionen konstant sind, steigt das Preisniveau, wenn die Geldmenge steigt, und umgekehrt.

Aber in den Jahren seit der Finanzkrise 2008 hatten wir eine ballonartig sich aufblähende Geldmenge, als die Zentralbanken durch Nullzinsen und Anleihenkäufe alles versucht haben, um Geld auf den Markt zu bringen. Aber die Preise blieben weitgehend stabil. Das war ja gerade das Problem: Die EZB wollte Inflation „machen“ und schaffte es nicht. In diesem Jahr hingegen steigen die Preise plötzlich um 10%, aber von einer Aufblähung der Geldmenge merke ich auf meinem Konto bislang nichts.

Es springt ins Auge: Anders, als die Quantitätsgleichung behauptet, können Preisniveau und Geldmenge voneinander entkoppelt werden. Der mutige Satz auf Wikipedia – „Die Quantitätsgleichung ist definitionsgemäß immer wahr und empirisch nicht falsifizierbar.“ – ist leichtsinnig. Er gilt vielleicht auf einem optimalen Markt in einem optimalen Finanzsystem. Aber nicht hier und jetzt. Inflation und Preissteigerung sind in der Realität zwei zu trennende Begriffe.

Und das ist im wirklichen Leben wichtig. Denn weil die EZB außerstande ist, diese Begriffsunterscheidung vorzunehmen, beantwortet sie eine vermeintliche „Inflation“ durch Zinserhöhungen. Da es aber überhaupt keine Inflation gibt, kann sie diese auf diese Weise auch nicht bekämpfen. Stattdessen hängt sie damit der absaufenden Wirtschaft noch ein paar Bleigewichte an die Füße.

Nur Skylla oder Charybdis?

Welche Wahl haben die Griechen? Entweder sie kapitulieren vor den Gläubigern und setzen den Sparkurs fort, der sie seit fünf Jahren in immer tieferes Elend gestürzt hat, und das weiterhin tun wird. Denn jegliches Geschwätz von einem wiedererwachenden Wirtschaftswachstum, das Syriza kaputt gemacht habe, ist genau das: Geschwätz. Oder sie gehen in den Staatsbankrott, mit all den kurzfristigen wirtschaftlichen Turbulenzen, die er mit sich bringen wird. Tsipras’ ferner Vorfahr Odysseus hatte wenigstens noch die Wahl eines dritten Weges; er schaffte es, mitten zwischen beiden Gefahren hindurch zu steuern. Tsipras hat diese Option nicht. Und das muss man, bei aller Sympathie, auch ihm und seiner Partei ankreiden.

Es scheint, dass die Strategen von Syriza bei ihrem Regierungsantritt in entzückender Naivität an die Macht des Arguments geglaubt haben. Der Sparkurs der Troika war offensichtlich und furchtbar gescheitert; ein Schuldenschnitt und staatliche Investitionsprogramme sind für Griechenland unumgänglich: Das ist so. Jeder kann das erkennen, und die Syriza-Regierung glaubte, dass angesichts der Tatsachen auch die Gläubigerinstitutionen zur Vernunft kommen würden. Jedoch: Es wurde sehr schnell klar, dass die Gläubiger für die Vernunft nicht zu sprechen sind. Es mag eiskaltes Machtkalkül sein oder verbitterter Altersstarrsinn: Die Austeritätsfanatiker denken nicht daran, sich von Argumenten beeindrucken zu lassen. Die einzige „Rettung“, welche die Gläubiger Griechenland zu gewähren bereit sind, ist die notdürftige Lebenserhaltung, welche der Folterknecht seinem Opfer zuteil werden lässt, um länger seine sadistischen Gelüste an ihm auslassen zu können. Das, wie gesagt, war innerhalb weniger Wochen nach Amtsantritt der Syriza-Regierung klar. Seit diesem Zeitpunkt hätten Tsipras und sein Kabinett einen Plan B (oder C) entwickeln können. Und müssen.

Aber sie haben das nicht getan. Den Griechen bleibt die Wahl zwischen Skylla und Carybdis, und kein dritter Weg ist in Sicht. Gewiss, eine positive Lösung ist wahrlich nicht einfach. Im Kern liegt das Problem Griechenlands ja – allem Anschein zum Trotz – nicht im Gelde. Geld ist nur eine Verrechnungseinheit für Leistung, und auf der Leistungsebene liegt das Problem: Solange Griechenland keine auf dem Weltmarkt konkurrenzfähigen Industrieprodukte herstellt, und sogar einen Großteil seiner Lebensmittel importieren muss, so lange wird es in jeder beliebigen Währung in Schulden geraten. Hier muss jede Wirtschaftspolitik Entwicklungsrichtungen finden und aufzeigen.

Dies wird allerdings einfacher, wenn Griechenland sich vom Euroraum und der übermächtigen deutschen Konkurrenz abkoppelt. Die Drachme würde gegenüber dem Euro so lange fallen, wie das Leistungsbilanzdefizit bestünde – so lange, bis Importe unbezahlbar, Exporte dagegen konkurrenzlos billig wären. Schon früh haben Kommentatoren eine Parallelwährung vorgeschlagen, als eleganten Weg, den Euroraum faktisch zu verlassen, ohne bei der Umstellung in wirtschaftliches Chaos zu stürzen. Tsipras und Varoufakis scheinen nicht zugehört zu haben. Weder sie noch die Gläubiger haben Griechenland eine Hoffnung zu bieten. Nur Angst – nur entweder Skylla, oder Charybdis.

Irrwissen 5 : Geld kann man nicht essen.

Widerspricht : Empirie & Vernunft

Fachbereich : Volkswirtschaftslehre

Es gibt eigentlich nur zwei Weltmeister, die in Deutschland etwas bedeuten, und es ist schwer zu sagen, welcher davon wichtiger ist: Fußballweltmeister – Exportweltmeister. Fußballweltmeister zu werden, wäre vermutlich das tollere, aber da das mit der deutschen Gurkentruppe nie so recht klappt, ist man auf die Exportweltmeisterschaft umso stolzer. Dass die Chinesen uns diesen Titel seit vier Jahren abgejagt haben – das schmerzt.

Dabei exportieren wir doch wie (aber eben nur wie, und nicht als) die Weltmeister. Immer schon. Seit 1952, Deutschland lag noch halb in Trümmern, ist unsere Außenhandelsbilanz durchgängig positiv. Jahr für Jahr exportieren wir mehr Waren, als wir importieren – und sehen uns damit als Vorbild für die Welt. Ja, wenn das alle so machen würden, dann . . . dann, tja, dann würde das offensichtlich nicht funktionieren. Aber egal. Wir jedenfalls machen das so. Und finden das toll.

12-12-03 Außenhandelsbilanz BRD

Außenhandelsbilanz der BRD im Zeitverlauf seit 1950. Datenquelle: Bundesamt für Statistik

Wäre der zwischenstaatliche Handel ein Tauschhandel, dann spränge es wohl ins Auge, dass dieser Exporteifer „toll“ nur ist im altmodischen Sinne des Wortes: wahnsinnig und tobend. Jahr um Jahr tauschen wir Waren, die einen gewissen Wert haben, ein gegen Waren, die weniger wert sind. Nur ein Verrückter würde das freiwillig regelmäßig tun.

Aber wir bekommen ja Geld dafür. Und nicht zu knapp.

Aufsummierte Außenhandelsbilanz der BRD

Außenhandelsbilanzsumme der BRD

Stolze 2,75 Billionen Euro haben wir seit 1950 eingenommen. Das ist etwas mehr als der Gegenwert aller Waren und Dienstleistungen, die im Jahr 2012 in der BRD produziert worden sind (nämlich 2,645 Billionen Euro). Wir haben ziemlich genau soviel Geld gespart, wie wir in einem Jahr zum Leben brauchen. Sind wir also reich?

Ja und nein. Gewiss, als Ganzes ist Deutschland reich. Es gibt nur zwei Einwände: Erstens: Es deutet nichts darauf hin, dass jemand vorhätte, sich für dieses Geld auch etwas zu kaufen. Klar, es werden damit Börsenpapiere und Ähnliches gekauft, aber in realwirtschaftliche Güter aus anderen Ländern wird es nicht umgesetzt. Diese 2,7 Billionen sind Selbstzweck. Aber leider nicht essbar. Und zweitens: Wie ich früher bereits einmal schrieb, ist dieser Reichtum alles andere als gleich und gerecht verteilt. Gerade jene, die das Geld erarbeitet haben, besitzen es nicht. Dabei würden sie es bestimmt gerne ausgeben, denn sie könnten es gebrauchen. Was wäre das für eine paradisische Vorstellung: Jeder von uns bekommt ca. 50000 Euro; ganz Deutschland macht ein Jahr lang Urlaub, kauft das Essen in Italien, die Kleidung in Frankreich, die Software in den USA, macht Urlaub in Griechenland und Spanien – und am Ende haben wir kein Guthaben mehr, die erwähnten Länder keine Schulden, und wir könnten mit einer vernünftigen Wirtschaftsordnung von vorne anfangen. (Telepolis hat gerade vorgestern einen tollen Artikel von Tomasz Konicz veröffentlicht, der scharf und klar analysiert, wie Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten seine Staatsschulden exportiert hat. Lesen!)

Aber so ist es nicht. Geld kann man nicht essen, und so verschenken wir weiter unsere Leistung, ohne etwas Brauchbares dafür zu bekommen. Das Einzige, was wir davon haben, ist Arbeit. Sie wird – siehe die vorangegangene Folge in dieser Serie – immer schlechter bezahlt, aber immerhin: Man hat Arbeit. Das toll zu finden, ist wohl nur durch die hierzulande tief eingebrannte protestantische Ethik zu erklären. Um diese zufrieden zu stellen, könnte eine konsequente Lösung der europäischen Wirtschaftsprobleme darin bestehen, dass wir Deutschen unsere Waren dem Ausland einfach gleich schenken. Dann müssten sich diese Länder wenigstens nicht mehr verschulden, und hier könnten wieder alle arbeiten. Es sähe zwar aus wie Sklaverei – aber nein! Es wäre toll. Und wir wären wieder Weltmeister.

Der Befund – und seine Ursachen

Welch Überraschung, welch Fassungslosigkeit, welch Entsetzen! Der neue Armutsbericht der Bundesregierung  erscheint und zeigt: In den letzten Jahren sind die Reichen reicher und die Armen ärmer geworden. In der folgenden Graphik habe ich mir die Zahlen aus der Süddeutschen genommen (blaue Balken, für das erste bis fünfte und das sechste bis neunte Dezil jeweils summiert) und mir erlaubt, die Anteile zu schätzen, welche die Einzeldezile daran haben.

Nettogesamtvermögen nach Haushaltsdezilen, geschätzt nach dem Armutsbericht der Bundesregierung

All jene, von denen man das erwartet, schreien auf und protestieren, und die Opposition holt ihre bewährten Forderungen nach Vermögenssteuer und Mindestlohn hervor. Letzteres ein Irrläufer, der auf dem unausrottbaren marxistischen Irrtum beruht, der gesellschaftliche Gegenpol zu den Lohnempfängern wären die Unternehmer. Nein, sind sie nicht, nein, die haben das Geld auch nicht. Aber lassen wir das. Die Wirrlehren des Marxismus sind schlimmer als der Riesenbärenklau oder die Brennnessel.

Weniger überraschend als für die mediale Öffentlichkeit ist die Meldung für jeden, der diese nicht mehr taufrische Graphik kennt:

Zinslasten und -erträge im Jahr 2000 nach Helmut Creutz

Gezeigt sind Zinszahlungen, -einkünfte und –salden der Haushalte nach eben jenen Dezilen, die auch im Armutsbericht eingeteilt werden. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Die innere Dynamik der Graphik sollte klar sein.

Unklar bleibt nur, warum eine Theorie (denn eine solche steckt hinter der Graphik), welche zutreffende Vorhersagen über die Wirtschaftsentwicklung macht, akademisch hartnäckig ignoriert wird, wohingegen eine Theorie, die eher nicht so gut trifft („Wachstum, Wachstum, Wachstum! Das Wachstum wird immer weiter gehen, und allen geht es immer besser!“), weiterhin die sogenannte Wirtschaftswissenschaft beherrscht. Die Herren Kuhn und Feyerabend hätten dazu sicherlich viel zu sagen gehabt, aber selbst die beiden hätten sich das so schlimm, glaube ich, nicht vorgestellt.