Nationale Stile des Denkens faszinieren mich seit vielen Jahren. Ich war überrascht, als ich gerade bei der Lektüre von Peter Finkes: „Mut zum Gaiazän“ in einer Nebenbemerkung dieselbe Zuordnung fand, die auch mir aufgefallen war: das empiristische Großbritannien, das rationalistische Frankreich, das metaphysische Deutschland. Überrascht und auch ein bisschen erleichtert, denn die Rede von „Volkscharakteren“ (oder „nationalen Identitäten“) ist ja schnell etwas anrüchig. Darf man sowas denn denken, heutzutage, wo denken (und zumal querdenken) wieder misstrauisch beäugt wird?
Offensichtlich darf man (noch). Ja, auf den britischen Inseln nimmt man die Welt als etwas Gegebenes, das der unvorbereitete Geist erkundet: daher der Empirismus und Positivismus, daher auch die große Erzähltradition, daher das dogmatische „Show, don’t tell“ der Creative Writing-Kurse, daher die Erfindung der Fantasyliteratur mit ihrer Erkundung fremder Welten. Und ja, der Franzose liebt den Esprit, er ist, weil er denkt, er hat die Aufklärung erfunden, er betreibt literarische Erkundungen des Ich und seiner Erinnerungen. Und wir Deutschen wollen wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, daher haben wir von Spinoza (na gut, Holländer) bis Wittgenstein alle großen Philosophen, aber in derselben Zeit keinen einzigen spannenden Erzähler, daher die „deutsche Schwere“ und die Phantastik, die unsere Welt ungeheuer macht, statt andere Welten zu erfinden.
Aber was ich mich immer auch gefragt habe: Warum immer nur Großbritannien, Frankreich, Deutschland? Was ist mit all den anderen Ländern? Was ist, zum Beispiel, mit Italien?
Ich kenne die italienische Literatur der letzten hundert Jahre weitaus besser als die französische, vermutlich sogar besser als die deutsche (s.o. Gute Erzähler sind Angelsachsen, Italiener, Lateinamerikaner). Nahezu alles von Calvino, etliches von Benni, seinem würdigen Erben, einiges von Buzzati, etwas Celati, Manganelli, Machiavelli, Baricco, Deledda („Canne al vento“), und noch dies und das. Aber Philosophen? Gibt es in Italien Philosophen? Bruno, Croce . . . na gut, aber sie haben nicht wirklich die Philosophiegeschichte umgestürzt, oder?
Daher ist es mir immer schwergefallen, zu definieren, was das italienische Denken ausmacht. Doch vielleicht habe ich einfach falsch gefragt.
Denn die Erfahrung der Italiener, nach bald dreitausend Jahren ununterbrochener Kulturgeschichte, ist vielleicht gerade, dass Philosophien nicht bleiben. Sie haben die Etrusker, die Griechen, die Römer, die Germanen, die Araber, die Franzosen erlebt, polytheistische Religionen, Christentum, Renaissance, Savonarola, Gegenreformation, haben Herrscher und ihre Ideologien (oder Ideologien und ihre Herrscher) kommen und gehen sehen, und nehmen das alles nicht mehr ernst. Daher lieben so viele der oben genannten Autoren (Calvino, Manganelli, Benni, Pirandello) das Spiel (und ich mit ihnen). Und alle den Menschen. Denn die italienische Literatur ist ja immer auch sozial engagiert, „links“ im klassischen, guten Sinne.
Statt ewige Wahrheiten und schwerfällige Geisteskonstrukte zu erdenken, ergötzen sich die Italiener am Hier und Jetzt. Am Duft luftgetrockneter Würste, rund und satt, am Aroma des Trüffels, am zarten Hauch der Zitrusfrüchte, an Saltimbocca und Pesto, am Glitzern der Sonne auf dem Tyrrhenischen Meer, an Goldorangen im dunklen Laub, am Gefangenenchor aus Nabucco in einem römischen Theater, am Sirren der Zikaden in den Zypressen, am Gesang ihrer Sprache, an gewundenen Altstadtgässchen zwischen roten und gelben Häusern, an den musikalisch schwingenden Hügeln der Toskana, . . .
Wozu Philosophie, wenn man Poesie hat?