Der schwarze Kater

Der schwarze Kater liegt auf einem sonnenbeschienenen Stein. Mit scharfen, grünen Augen hat er die Welt betrachtet. Er ist über Dächer geschlichen und durch modrige Keller, er hat unbemerkt an Fenstern gesessen und geduldig vor Geschäftshäusern Wache gehalten. Er hat gejagt, er ist satt.

Der schwarze Kater träumt.

Trauer: die unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Geist und Seele

Auf Spektrum erläuterte kürzlich eine Wissenschaftlerin, was sie über Trauer herausgefunden hatte. Es entsprach bemerkenswert meiner Erfahrung: Während der Verstand sofort begreift, was geschehen ist, braucht die Seele länger. Denn Gewohnheiten, die sich teils über Jahrzehnte eingeschliffen haben – Gewohnheiten des Denkens, des Wahrnehmens, des Handelns, kleine Rituale, unbewusste Wünsche des Körper – ändern sich nur langsam. Ständig ertappt man sich bei Erwartungen, die nicht mehr möglich sind. Spürt Handlungsimpulse, die jetzt ins Leere gehen. Diese Flussbetten der Seele verlagern sich nur sehr langsam, und so kollidiert ständig das, was man weiß, schmerzhaft mit dem, was man spürt.

Aber irgendwann schleifen sich die Gewohnheiten doch aus. Es ist wie täglicher Sport, wie fleißiges Klavierüben: Bis man Erfolge sieht, dauert es, aber wenn man dranbleibt, bleiben sie nicht aus. Dann wird die Abwesenheit des geliebten Menschen zur neuen Normalität.

Dann aber ist es der Geist, der hinterherhinkt. Der die neue Wirklichkeit nicht begreift. Wie, das soll’s schon gewesen sein? 23 Jahre, so schnell vergessen? Das darf doch jetzt nicht normal sein!

Der Geist vergisst nicht. Und die Seele antwortet: „Auch ich vergesse nur den Schmerz. Ich verheile nur die Wunde. Die Liebe bleibt.

Bestelltes Frühlingsgedicht

Wenn die Welt wieder duftet,

oder meinetwegen stinkt,

wenn der Amselmann schuftet

und gelegentlich singt,

wenn Insekten flink fliegen

in des Radfahrers Aug‘,

wenn die Pärchen sich schmiegen

und man irgendwas paukt,

dann ist Frühling geworden

und sagt: „Dichte mich an!“

Frecher Kerl, so zu fordern –

na, ich tu, was ich kann.

„Ein Mensch mit seinem Widerspruch.“

Gerade lese ich eine Essaysammlung des großen Physiologen und Evolutionsbiologen J.B.S. Haldane, herausgegeben unter dem Titel „On being the right size“. Die Aufsätze sind lesenwert in ihrer Gelehrsamkeit, Gedankenfülle und stilistischen Klarheit, doch viel mehr fasziniert die Person des Autors. Sein Schüler John Maynard Smith fasst es im Vorwort treffend zusammen:

„A liberal individualist, he was best known as a leading communist and contributor of a weekly article to the Daily Worker. A double first in classics and mathematics at Oxford, he made his name in biochemistry and genetics. A captain in the Black Watch who admitted to rather enjoying the First World War, he spent the end part of his life in India writing in defence of non-violence.“

Und ich würde noch hinzufügen: Erbe eines seit tausend Jahren bestehenden schottischen Rittergeschlechts, fand er im Sozialismus seine geistige Heimat.

Sicherlich war Haldane in vielerlei Hinsicht eine Ausnahmepersönlichkeit. In „Flow and Creativity“ vermutet Csikszentmihaly, dass große Geister Gegensätze in sich vereinen. Doch ist innere Widersprüchlichkeit vielleicht eher die Regel als die Ausnahme. Unwillkürlich fällt mir der Mensch ein, der sich in seiner Heimatstadt intensiv gegen Nazis engagiert, und zugleich Geld zur Bewaffnung ukrainischer Nazis sammelt (die er natürlich nicht so nennt). Oder der wortgewaltige anarchosyndikalistische Poet, der ganz gut von seinen Immobilien lebt. Und natürlich der Seele und Körper gleichsetzende extreme Verstandesmensch, der vor innerer Wut brodelnde Schmusekater, der bürgerliche Anarchist, der sprachbegabte Naturwissenschaftler, der diesen Blog verfasst.

Eine lebensnahe Persönlichkeitstheorie, ebenso wie glaubwürdige literarische Figuren, müssen diese Widersprüchlichkeit des Individuums abbilden können. Schon Gregory Bateson wirft irgendwo in der „Ökologie des Geistes“ den Gedanken hin, dass Menschen nicht – wie in der seit Eysenck klassischen differentiellen Psychologie – Einzelfaktoren der Persönlichkeit ausprägen, sondern stets beide Pole einer Skala: Extraversion und Introversion, Gewissenhaftigkeit und Schludrigkeit, usw.. Dem sollte die Wissenschaft einmal nachgehen. Jung hat das mit seinem Konzept des Schattens erfasst, und poetisch hat den Gedanken schon Christian Dietrich Grabbe eingefangen:

„Ich bin kein ausgeklügelt Buch.

Ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch.“

Was bleibt.

Vor ziemlich genau drei Monaten wurde meine geliebte Frau durch einen lächerlichen Unfall plötzlich getötet. Mehr als zuvor überlege ich seitdem, was von uns bleibt, wenn wir sterben. Heute an Allerseelen ist ein guter Anlass, diese Gedanken aufzuschreiben.

Ich glaube nicht an die Existenz einer Seele. Als Neurobiologe weiß ich, wie sehr unsere Persönlichkeit, unsere Erinnerungen, unsere Fähigkeiten vom Gehirn abhängen. Die Erforschung der Verkörperten Kognition (embodied cognition) lehrt uns zudem, dass Fühlen, Denken und Urteilen vom ganzen Körper mit getragen werden. Und auch die Beziehungen zu anderen Menschen, ihre Erwartungen, Ansprüche, Unterstützung, sind unlösbarer Teil dessen, was ein Jeder ist. Nimmt man all dies fort, dann bleibt von der Seele nur noch ein leeres Gefäß, das vom lebenden Körper gefüllt werden muss. Wozu sollte das gut sein?

Der spätromantische Philosoph Richard Müller-Freienfels kam in seiner lesenswerten „Philosophie der Individualität“ zum selben Ergebnis. Er unterschied sieben Aspekte der Persönlichkeit, darunter das Selbstbild, das Fremdbild, den Körper, den Besitz. Die wenigsten davon, so fand er, bleiben nach dem Tode erhalten. Was also sollte es sein, das ewig lebt? Wieviel Individualität bleibt?

*

Jedes Lebewesen prägt sich seiner Umwelt auf. Ich habe oft gedacht, dass ein kundiger Betrachter meine Persönlichkeit umfassend aus meiner Bibliothek herauslesen könnte. Oder auch aus meiner Plattensammlung. Und auch aus den Gärten, die ich gestaltet habe, denn „der Garten“, sagt der Volksmund, „ist der Spiegel der Seele“. Wenn ich sterbe, werde ich in Bibliothek, Gärten, Büchern noch eine Weile weiterleben. Und meine Frau – die weniger Wert auf materiellen Besitz legte – ist noch zu spüren in dem Haus, das sie gefunden und saniert hat, in ihren Kleidern, ihrem Praxisraum und unserem neuen, gemeinsamen Garten mit all den Rosen, die sie gepflanzt hat.

Doch auch dies alles vergeht. Schon richtet sich eine Tochter die Praxis als Zimmer ein. Die Kleider werden verteilt. Am Garten arbeite ich weiter. Wenn ich einmal sterbe, wird meine Bibliothek aufgelöst. Hoffentlich suchen sich meine Kinder die Schätze raus, hoffentlich übernimmt jemand die komplette Michael Ende-Sammlung, und vielleicht findet sich ein wertschätzender Abnehmer für die fremdsprachigen Bücher, die sie nicht lesen können. Doch der Rest, das mehr oder weniger zufällig Angeschwemmte, wird in einem modernen Antiquariat landen. Und Platten hat sowieso niemand mehr. Die Gärten werden weiterwachsen, Bäume werden eingehen oder gefällt werden, neue Eigentümer eigene Akzente setzen.

Das ist nur folgerichtig, denn die Umwelt ist mit ihrem Träger untrennbar verbunden. Die Innenwelt erschafft ihre Umwelt, die Umwelt erzeugt ihre Innenwelt. Vergeht die Innenwelt, dann folgt die Umwelt unweigerlich nach. Sie ist eine Art erweiterter Körper, und zersetzt sich wie er.

*

Bleibt also nichts?

Doch. Die liebende Erinnerung buchstäblich Hunderter von Menschen, die zu den Trauerfeierlichkeiten kamen, weil sie meiner Frau so viel verdankten. Es bleiben unsere Kinder und ich, die wir nicht wären – oder nicht wären, was wir sind – ohne meine Frau. Sie hat unsere Persönlichkeiten geformt wie kaum jemand sonst. Es bleibt die Geborgenheit des Zuhauses, das sie gegeben hat. Es bleibt die herzliche Freundschaft mit meinem Schwager. Es bleibt in der Familie unsere Wärme im Umgang miteinander. Es bleibt die Zuneigung der Menschen, die uns ihretwegen beistehen. Diese Liebe und Wärme geben wir weiter, und Andere werden sie ihrerseits weitergeben. Diese Dankbarkeit schreitet fort mit immer neuen Spuren. Etwas überdauert, und wir werden es auf den Grabstein schreiben:

Die Liebe bleibt.

Ich grüble doch über die Zeit . . .

Vergeht die Zeit? Woher wissen wir das?

Wir sind es so gewöhnt, die Zeit als vierte Dimension zu sehen. Psychologisch, sprachlich und neuronal repräsentieren wir sie räumlich: Sie fließt in eine Richtung, erzeugt Abstände, erlaubt Bewegung.

Nur ist das leider Unfug. Um beobachten zu können, dass etwas fließt oder sich sonstwie bewegt, muss ich relativ dazu stillstehen. Wenn ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, bewege ich mich relativ zur Erde nach Norden. In einem völlig leeren Raum könnte ich nicht feststellen, ob ich mich bewege. Selbst meine Sinnesorgane nehmen nur Beschleunigung wahr, nicht Geschwindigkeit. Ich brauche ein Bezugssystem, um Bewegung beobachten zu können.

Für die Zeit aber gibt es kein Bezugssystem. Nichts ist außerhalb der Zeit. Zu sagen, dass die Zeit vergehe, ist äquivalent dazu, zu behaupten, das gesamte Universum bewege sich mit hoher Geschwindigkeit in eine Richtung: nicht beobachtbar, nicht falsifizierbar, und damit eine unsinnige Aussage. Es gibt keinen Fluss der Zeit, weil er kein Ufer hat. (Darum sind All-Aussagen so haarig. Da jeder Begriff Grenzen hat, suggeriert ihre sprachliche Formulierung unweigerlich das Gegenteil dessen, was sie aussagen wollen: „Alles ist eins“ – also ist „alles“ begrenzt, und es gibt etwas außer „eins“. „Das Tao, über das man sprechen kann, ist nicht das wahre Tao“, sagt daher Lao Tse.)

Wie nehmen wir aber dann Zeit wahr? Mir scheint: über unsere Erinnerung. Nur, weil ich in jedem Augenblick erinnere, wie es vorher gewesen ist, kann ich Veränderungen wahrnehmen. Menschen wie Henry Molaison, die an einer totalen anterograden Amnesie leiden, lassen uns ahnen, wie die Zeit auf den kleinen Bereich der Aufmerksamkeitsspanne zusammenschnurren kann. Was, wenn es keine Aufmerksamkeit gibt? Gibt es Zeit für eine Pflanze, für ein Pantoffeltierchen? Für einen Meditierenden, der Erleuchtung erlangt?

Gäbe es Zeit, wenn es keine Menschen gäbe? Keine Tiere? Keine Wahrnehmung?

Ich wälze nicht schwere Gedanken,

ich grüble nicht über die Zeit.

Ich weiß nicht, wohin ich dann käme,

ich weiß nur, ich käme nicht weit.

Heinz Erhardt

Was ist etwas?

Vor fünf Jahren überraschte mich die norwegische Philosophin Hedda Hassel Mørch mit einem Lösungsvorschlag für das leidige Leib-Seele-Problem. Überraschend war freilich nicht die Lösung – der gute alte und stets sympathische Panpsychismus -, sondern vielmehr die Nebenfrage, welche die Philosophin auf die Spur brachte: Was ist eigentlich Materie?

„Die Physik lehrt uns, was fundamentale Teilchen tun oder wie sie sich zu anderen Dingen verhalten. Aber sie sagt nichts darüber, wie sie in sich selber sind, unabhängig von anderen Dingen.

[…]

Manche sagen, dass an Partikeln nicht mehr dran ist als ihre Relationen. Aber die Intuition widerspricht dem. Denn damit es eine Relation gibt, müssen zwei Dinge miteinander in Relation stehen. Sonst ist die Relation leer – wie eine Aufführung ohne Schauspieler oder ein aus dünner Luft konstruiertes Schloss. Die physikalische Struktur muss durch irgendeinen Stoff oder eine Substanz realisiert oder implementiert sein. Andernfalls gibt es keinen klaren Unterschied zwischen physikalischer und rein mathematischer Struktur, zwischen einem konkreten Universum und einer reinen Abstraktion. Was könnte dieser Stoff sein, der die physikalische Struktur realisiert?“

Bis dahin hatte ich mir die Frage nie gestellt. Materie – das waren halt Teilchen oder Felder. Oder Energie. Oder so. Jedenfalls war es was. Tatsächlich brauchte ich eine Weile, bis ich überhaupt Hassel Mørchs Frage verstand. Genügte das denn nicht?

Erst langsam ging mir auf, dass wir im Bereich der Teilchenphysik mit Metaphern agieren. Man nehme das Licht: Mal beschreiben wir es als Welle, mal als Teilchen. Es ist wahrscheinlich keines von beiden, sondern etwas Andersartiges, das wir im makroskopischen Bereich nicht kennen. Dasselbe gilt für den ganzen Teilchenzoo der Physiker mit seinen Spins und spukhaften Fernwirkungen, für diese Materie, die irgendwie auch Energie oder Feld ist: Wir können uns ihnen nur über Metaphern annähern, die niemals passen.

Und weitergedacht: Was akzeptieren wir eigentlich als Antwort auf die Frage: „Was ist es?“ Hassel Mørch schlägt vor: Materie ist Bewusstsein. Damit halbiert sie immerhin elegant die Menge der Explananda, lässt mich aber skeptisch, ob sie damit schon etwas erklärt. Ihre Antwort besteht in einer Identitätsaussage. Manchmal hilft das. Was ist der Morgenstern? Die Venus. Das funktioniert, wenn man einen der gleichgesetzten Begriffe bereits kennt. Und wenn nicht?

Manchmal beantworten wir eine „Was ist das?“-Frage funktional. Was ist Energie? Wikipedia sagt: „Energie ist eine fundamentale physikalische Größe, die in allen Teilgebieten der Physik sowie in der Technik, Chemie, Biologie und der Wirtschaft eine zentrale Rolle spielt.“ Und führt dann auf, was sie tut. Ist das eine Antwort?

Wissen wir überhaupt, was etwas ist?

Fragen finden

Plötzlich . . .

Plötzlich staunt er vor seinem Zwicker,

daß er nicht ›gehe‹; gleich als ob das Glas,

wie eine Uhr, nun eben: ›gehen‹ müßte.

Wie? war er – stehen geblieben? –

Lebenswitz.

Auf zwei Sekunden Wahrheit, hier für drei

zuviel schon. Gleichwohl. Plötzlich . . . Schluß.

Christian Morgenstern

Die Kreativitätsforschung macht seit jeher viel Aufhebens davon, wie neue, originelle Antworten auf knifflige Fragen gefunden werden. In dieser Sichtweise erscheint die Wissenschaftsgeschichte als Abfolge von Antworten auf Fragen, welche die Natur halt so stellt.

Manchmal jedoch geschieht etwas Anderes, Verwirrendes: Da überfällt einen nicht etwa eine Antwort, sondern eine Frage. Da wird scheinbar Selbstverständliches rätselhaft. Die Antwort lässt auf sich warten, aber das Staunen bleibt.

Vielleicht sind es vielmehr die Fragen als die Antworten, woraus die Revolutionen der Wissenschaft entstehen.

Zwei Fragen, die mich in letzter Zeit überrumpelt haben, präsentiere ich hier in einer Mini-Serie in den nächsten Tagen. Bleiben Sie dran. 😉

Philosophie? Poesie!

Nationale Stile des Denkens faszinieren mich seit vielen Jahren. Ich war überrascht, als ich gerade bei der Lektüre von Peter Finkes: „Mut zum Gaiazän“ in einer Nebenbemerkung dieselbe Zuordnung fand, die auch mir aufgefallen war: das empiristische Großbritannien, das rationalistische Frankreich, das metaphysische Deutschland. Überrascht und auch ein bisschen erleichtert, denn die Rede von „Volkscharakteren“ (oder „nationalen Identitäten“) ist ja schnell etwas anrüchig. Darf man sowas denn denken, heutzutage, wo denken (und zumal querdenken) wieder misstrauisch beäugt wird?

Offensichtlich darf man (noch). Ja, auf den britischen Inseln nimmt man die Welt als etwas Gegebenes, das der unvorbereitete Geist erkundet: daher der Empirismus und Positivismus, daher auch die große Erzähltradition, daher das dogmatische „Show, don’t tell“ der Creative Writing-Kurse, daher die Erfindung der Fantasyliteratur mit ihrer Erkundung fremder Welten. Und ja, der Franzose liebt den Esprit, er ist, weil er denkt, er hat die Aufklärung erfunden, er betreibt literarische Erkundungen des Ich und seiner Erinnerungen. Und wir Deutschen wollen wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, daher haben wir von Spinoza (na gut, Holländer) bis Wittgenstein alle großen Philosophen, aber in derselben Zeit keinen einzigen spannenden Erzähler, daher die „deutsche Schwere“ und die Phantastik, die unsere Welt ungeheuer macht, statt andere Welten zu erfinden.

Aber was ich mich immer auch gefragt habe: Warum immer nur Großbritannien, Frankreich, Deutschland? Was ist mit all den anderen Ländern? Was ist, zum Beispiel, mit Italien?

Ich kenne die italienische Literatur der letzten hundert Jahre weitaus besser als die französische, vermutlich sogar besser als die deutsche (s.o. Gute Erzähler sind Angelsachsen, Italiener, Lateinamerikaner). Nahezu alles von Calvino, etliches von Benni, seinem würdigen Erben, einiges von Buzzati, etwas Celati, Manganelli, Machiavelli, Baricco, Deledda („Canne al vento“), und noch dies und das. Aber Philosophen? Gibt es in Italien Philosophen? Bruno, Croce . . . na gut, aber sie haben nicht wirklich die Philosophiegeschichte umgestürzt, oder?

Daher ist es mir immer schwergefallen, zu definieren, was das italienische Denken ausmacht. Doch vielleicht habe ich einfach falsch gefragt.

Denn die Erfahrung der Italiener, nach bald dreitausend Jahren ununterbrochener Kulturgeschichte, ist vielleicht gerade, dass Philosophien nicht bleiben. Sie haben die Etrusker, die Griechen, die Römer, die Germanen, die Araber, die Franzosen erlebt, polytheistische Religionen, Christentum, Renaissance, Savonarola, Gegenreformation, haben Herrscher und ihre Ideologien (oder Ideologien und ihre Herrscher) kommen und gehen sehen, und nehmen das alles nicht mehr ernst. Daher lieben so viele der oben genannten Autoren (Calvino, Manganelli, Benni, Pirandello) das Spiel (und ich mit ihnen). Und alle den Menschen. Denn die italienische Literatur ist ja immer auch sozial engagiert, „links“ im klassischen, guten Sinne.

Statt ewige Wahrheiten und schwerfällige Geisteskonstrukte zu erdenken, ergötzen sich die Italiener am Hier und Jetzt. Am Duft luftgetrockneter Würste, rund und satt, am Aroma des Trüffels, am zarten Hauch der Zitrusfrüchte, an Saltimbocca und Pesto, am Glitzern der Sonne auf dem Tyrrhenischen Meer, an Goldorangen im dunklen Laub, am Gefangenenchor aus Nabucco in einem römischen Theater, am Sirren der Zikaden in den Zypressen, am Gesang ihrer Sprache, an gewundenen Altstadtgässchen zwischen roten und gelben Häusern, an den musikalisch schwingenden Hügeln der Toskana, . . .

Wozu Philosophie, wenn man Poesie hat?

Nicht die Welt, doch die Welt

Selbst wenn die Welt so eingerichtet wäre, dass ein Verstand sie durchdringen könnte, wäre dies doch keinem menschlichen Verstand gegeben. Ewig unbegreiflich wirbeln die Phänomene, entziehen sich jeder Theorie und spotten jeder Prognose. Die Welt ist nicht geheuer!

Was soll man da tun?

Manche bauen sich ein Modell der Welt in ihren Köpfen, wie ein 3D-Puzzle der Wartburg, und halten es für ein getreuliches Abbild. Verführt durch die Überschaubarkeit, Eindeutigkeit, Starrheit ihrer Modellburg erwarten sie, die reale Welt müsse ebenso sein. Sie leben gedanklich in ihrem Modell, weil die Welt ihnen im Grunde nicht gefällt. Das ist der Weg der Schlichten im Geiste.

Andere verstehen die Unzulänglichkeit aller Modelle, und können sie doch nicht lassen. Unermüdlich suchen sie Faktensteinchen und Datenbalken, eine Fülle von Material und doch nie genug. Sie stecken und stapeln und rearrangieren, um ihrem Traumschloss Ähnlichkeit mit der Welt zu geben, fügen hier ein Türmchen hinzu, beseitigen dort einen Erker, verwerfen Gewissheiten, skizzieren Möglichkeiten, getrieben von Neugier, doch niemals am Ziel. Das ist der Weg der Wissenschaftler.

Und Dritte, schließlich, versagen sich von allem Anfang an jeden Versuch, das Chaos zu fassen. Sie erkennen die Vergeblichkeit des Unterfangens und keinen Sinn darin. Wozu ein Abbild, wenn doch das Eigentliche stets da ist, überraschend, betörend, wandelhaft? Sie vertrauen der Liebe und lieben das Leben. Das ist der Weg der Weisen (und ich beneide sie).

Eine Zen-Weisheit sagt: Ehe der Schüler beginnt, die Weisheit zu begreifen, ist für ihn ein Haus nur ein Haus, ein Stock nur ein Stock und ein Bett nur ein Bett. Wenn er dann auf dem Weg der Erkenntnis fortgeschritten ist, ist das Haus nicht mehr ein Haus, der Stock nicht mehr ein Stock und das Bett nicht mehr ein Bett. Doch wenn er endlich Satori erlangt hat, dann ist das Haus wieder ein Haus, der Stock wieder ein Stock und das Bett wieder ein Bett.

Meine schwarzen Kater

Wenn ich daheim an meinem Schreibtisch sitze, sehe ich vier schwarze Kater (ganz rechts versteckt sich noch einer außerhalb des Bildausschnitts):

Links thront der erste. Liebe Freunde, die mich gut kennen, haben mir dieses Poster vor vielen Jahren geschenkt. Woher sie es haben, weiß ich nicht. Es trägt auch keine Signatur. Mir ist es teuer; ich habe es sogar zu meinem Profilbild auf WhatsApp gemacht (was Hundeliebhaber gelegentlich befremdet, aber da müssen sie durch).

Das Bild daneben haben mir meine Töchter letztes Jahr zu Weihnachten gemalt. Sie kennen natürlich meine Liebe zu dem Poster links daneben, und sie können beide gut zeichnen. Weshalb sie mir ein Buch mit dem Titel „Kammerjäger“ zuschreiben, muss ich sie allerdings noch fragen. Oder hätte es statt „bestiolarum“ „canum“ heißen müssen?

Dann, natürlich, das Chat Noir. Ach, hätte man doch hundert Jahre früher gelebt! Mit Wilde und Bernhardt, Toulouse-Lautrec, Verlaine und Debussy zu diskutieren und Absinth zu trinken! Gerade habe ich den dritten Oscar Wilde-Krimi „Oscar Wilde and the Dead Man’s Smile“ von Gyles Brandreth mit gewaltigem Vergnügen gelesen. Er spielt im Paris und auch im Chat Noir jener Zeit. Das Poster haben mir wiederum meine Töchter von dort mitgebracht.

Und schließlich der „Barter Tower“. Dieses Zettelchen brachte mir ein Student aus Newcastle mit. Dort gibt es eine besondere Erscheinungsform des Paradieses auf Erden, ein großer, verwunschener Buchladen, eingerichtet in einem ehemaligen Bahnhof. Er heißt „Barter Books“, und sein Wahrzeichen ist der Kater auf dem Bücherstapel.

Gelegentlich kommt noch Bruno zu Besuch. Er ist, wie der Name verrät, nicht richtig schwarz, und ein richtiger Kater ist er auch nicht mehr. Aber wir wollen es gelten lassen.

Und bisweilen erscheint auch Pamuk. Die einzige weiße Katze zwischen all den schwarzen Katern.